November ist Männer*gesundheitsmonat und Beginn der Kerzenzeit
Die Tage sind kurz und ab 16.30 ist es in Berlin mittlerweile dunkel. Für mich sind Kerzen in der dunklen Jahreszeit wichtig und ein Symbol für Licht, Wärme aber auch Hoffnung und Frieden.
Während ich Krebs hatte und zu meditieren begonnen habe, habe ich das Entzünden einer Kerze mehr als Ritual für eine spirituelle Verbindung kennengelernt, was auch in vielen Religionen präsent ist.
Interessanterweise habe ich gestern auch eine Nachricht von einer Pilger-kollegin aus Australien bekommen, mit der ich vor fast einem Jahr, im Dezember und Anfang Januar in Nordindien an einer buddhistischen Pilgerreise teilnahm. Sie hat indische Wurzeln und schickte unsere Gruppe eine Mail mit ein paar Worten zum hinduistischen Fest Divali, das gestern war. Ich fand es interessant, da Anfang November ja auch das katholische Allerheiligen ist, und Kinder in den Kitas das Laternenfest feiern. Diese Verbindung, dass im November Licht und Rituale für die dunkle Jahreszeit in verschiedenen kulturellen und religiösen Kontexten begangen wurde, fand ich spannend.
Gedanken über Gleichzeitigkeit
Vieles geht mir derzeit durch den Kopf. Ich habe tausend Ideen worüber ich schreiben möchte und kann mich kaum entschließen, wo ich anfangen soll. Es ist Männer*gesundheitsmonat und unter dem #movember posten Krebsblogger*innen auf Instagram Bilder von Schnurrbärten um Aufmerksamkeit für Männergesundheit und Vorsorge-untersuchungen zu schaffen.
Gleichzeitig beschäftigt mich der Terroranschlag in meiner Heimatstadt Wien von Anfang November und die weiteren kürzlich stattgefundene Terroranschläge in Frankreich.
Gleichzeitig fanden in Deutschland Erinnerungs-Märsche an das Attentat von Hanau statt, bei dem im Februar ein Neonazi neun BPOC Menschen tötete.
Gleichzeitig war die US Wahl und der pathologisch-narzisstische Ex-Präsident, dessen Namen ich nicht schreiben und ihm damit Bedeutung geben möchte, stiftet im Bewusstsein für ein Bürgerkriegspotenzial Unruhe und blendet in seinem Wahn die Realität komplett aus.
Gleichzeitig wurden in Polen Frauen* und Menschen, die gebären können, fundamentale Grundrechte durch die klerikal-faschistische Regierung genommen.
Gleichzeitig ist sowieso die Corona Krise, die sich in Österreich dramatisch zuspitzt und wieder zu einem harten Lockdown führt, mit all den negativen Konsequenzen für Kinder, Gesellschaft usw.
Zum Abrunden der Weltuntergangsstimmung denke ich an die Klima-krise, und wie wir (vorallem in Industrienationen) sehenden Augen unsere Existenzgrundlage, diesen Planeten zerstören.
Bei all diesen Themen fühle ich mich schnell so klein und unbedeutend. Wenn ich am Schreiben bin, frage ich mich, was mein Blog oder irgendwelche Gedanken von mir für einen Sinn haben, in Anbetracht dieser globalen Krisen.
Ich habe dann über all diese Themen nachgedacht und eine Gemeinsamkeit gefunden. Zynisch formuliert liegt all dem ein Problem zu Grunde: Männer*. Cis-männer*, um genau zu sein und das bringt uns zum Thema dieses Beitrags.
Männergesundheit, Männlichkeit und tausende Jahre Patriarchat
Ich denke gerade an diese Werbung von Ricola, den Schweirzer Kräuter-pastillen. Darin sieht man ja einen weißen schweizer Mann, der um die Welt reist und verschiedene Menschen daran erinnert, dass die Schweizer* Ricola erfunden haben. Schöne weiße, eurozentristische Welt. Ich habe diesen Spot (der anscheinend mittlerweile nicht mehr verwendet wird) unendlich oft im Fernsehen in den 90ern gesehen und dachte mir gerade, vielleicht lässt sich dieses Prinzip ausweiten:
Der autoritäre, weißer Vorherrschaft huldigende, pathologisch narzisstische Us-präsident: Welches Geschlecht hat er nochmal? Aja (cis-)männlich.
Und der klerikal-faschistischer Regierungschef in Polen? Ach ja: Mann
Die Attentäter der Terroranschläge in Wien, Frankreich, Hanau, Christchruch, Orlando und eigentlich überall? Verübt durch: Männer
Religiöse Führer und Autoritäten in praktisch allen Religionen, in denen Religion als Legitimation für Gewalt missbraucht wird: Männer*
Rassismus als System weißer Vorherrschaft erfunden durch: Männer
Weiße, europäische Kolonisatoren, die die halbe Welt versklavt und damit den Reichtum Europas ermöglichten: Männer*
Die Liste würde sich endlos fortführen lassen und soll nicht negieren, dass Frauen, nicht auch bei allen möglichen Unrechten beteiligt waren, mitgemacht haben und von Ungleichheitssystemen, wie weißer Vorherrschaft profitieren. Aber: alles das fand und findet in patriarchalen Systemen statt, in denen Männer die Macht haben.
Da ich ja selber ein weißer Cis-Mann bin, merke ich selbst, wie erdrückend es ist auf diese Geschichte und das patriarchale System zu blicken. Gleichzeitig merke ich aber, dass mir meine Aufgabe klar ist: Ich möchte in meinem Leben daran beteiligt sein, andere Formen von Männlichkeiten zu leben und dazu beitragen patriarchale Strukturen zu durchbrechen.
Es geht mir mit diesem Post nicht darum Männer* pauschal abzuwerten oder mich oder andere Menschen zu beschämen. Ich möchte hingegen ein politisches und gesellschaftliches System ansprechen, dass sehr viel Leid verursacht und verhindert, dass Männer* besser auf sich und ihre Gesundheit schauen können. Und das auch verhindert, dass wir in unserer Menschlichkeit friedlich und solidarisch miteinander leben können, das Patriarchat!
Dies ist also mein Beitrag zum Männer*gesundheitsmonat Movember, der aufzeigt, dass Männer selber unter dem Patriarchat leiden, beispielsweise weil es Männern schwerer fällt ärztliche und psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, Verletzlichkeit und Schwäche zuzulassen und stärkende emotionale Beziehungen zu ihren Partner_innen und Mitmenschen einzugehen.
Männer* zahlen im Patriarchat selber einen hohen Preis. In Form von durchschnittlich kürzerer Lebenszeit, höherer Suizidrate, Alkoholmissbrauch usw.
Männergesundheit* und diese zu fördern, besteht für mich und viele gesundheitspolitisch agierende Männer* also in weit mehr, als Männer* zu ermutigen, zu einer Vorsorge-Untersuchung zu gehen. Es braucht vielmehr eine Arbeit an Männlichkeits*bildern und aus queerer Perspektive überhaupt die Infragestellung von unserem binären Geschlechtssystem, das – wie wir von engagierte BIPOC Aktivist*innen lernen können- vielen Kulturen durch weiße Kolonisatoren aufgezwungen wurde, wie z.B. indigenen Kulturen Nordamerikas.
Ich finde Bewusstsein für Hoden* oder Prostatakrebs* zu schaffen natürlich ein wichtiges Vorhaben und hätte davon selber sehr profitiert. Ich war zwar ein gesundheitsbewusster Mann und ging regelmäßig zum Arzt, aber hatte selber, bevor ich erkrankte, gar nicht am Schirm, dass Hodentumore besonders junge Menschen zwischen 20 und 40 betreffen. Diese Info zu verbreiten und ins Bewusstsein zu rücken finde ich also absolut wichtig, aber es muss noch viel weiter gehen und das ganze patriarchale System transformiert werden.
50 Jahre Männer*pause in der Politik als Beitrag zur Männergesundheit?
Während ich an Krebs erkrankt war, bin ich mit zwei Freunden öfter zum wiener Karlsplatz gegangen. Bei einem Gespräch über Männlichkeit und Gesundheit eröffnete mir mein Freund seinen Vorschlag zur Lösung des Problems: 50 Jahre Matriarchat, oder anders formuliert: alle Leitungsfunktionen, ob in Politik, Wirtschaft, staatlichen Einrichtungen oder privaten Organisationen. Alle Leitungsfunktionen sollen für 50 Jahre ausschließlich von Frauen* oder trans* und nicht-binären Menschen ausgeübt werden.
Ich war damals ziemlich sprachlos. Ich dachte, mein Freund meinte das als provokativen Scherz, um eine feministische Position zu untermauern. Bei meinen Nachfragen jedoch stelle sich schnell heraus, dass er es durchaus ernst meinte. Ich war verblüfft. Wäre das realistisch? Wie sollte das funktionieren, dachte ich.
Ziemlich schnell aber war ich total bei ihm und dachte: Das ist eigentlich eine Möglichkeit zu versuchen unser aller Überleben zu sichern.
Wenn wir es mal ganz rational-faktisch betrachten, dann müssen wir ja feststellen, dass bis auf wenige Ausnahmen fast alle Gesellschaften und Kulturen seit tausenden Jahren patriarchal geprägt sind, also die politische Macht zum überwiegenden Teil in männlicher Hand war und ist. Durch Organisationsforschung wissen wir, dass sobald mehrere Frauen in Leitungsgremien sind, sich die Kultur der Organisation zu ändern beginnt.
Ganz rational-faktisch müssen wir also festhalten, dass die Menschheitsgeschichte mit Kriegen, Genoziden, Kapitalismus, Faschismus, Ausbeutung, Kolonialismus im globalen Kontext bis hin zu selbstschädigenden Verhalten, Mord, Unterdrücken von Gefühlen, Symptome und den eigenen Körper ignorieren, keine ärztliche oder psychologische Hilfe in Anspruch nehmen auf der individuellen Ebene; in einem System erscheinen, das männlich Herrschaft stützt.
Männer* sind natürlich genauso komplexe Wesen, wie alle anderen Geschlechter aus. Es gibt ganz tolle Männer, die Tolles leisten, Wissen haben und ganz viel bieten können, dass wir für unsere Gesundheit und Gesellschaft brauchen. Die meisten von uns und natürlich auch Männer* tuen ja irgendwie mit dem, was wir gerade können, wissen und glauben, in dem gesellschaftlichen, politischen Kontext und spirituellem Bewusstsein unser Bestes.
Die politische Macht für 50 Jahre an Frauen, Trans*, Inter* und nicht-binäre und geschlechter-nicht-konforme Personen abzugeben, bedeutet nicht, keine Verantwortung zu übernehmen. Ganz im Gegenteil, wir brauchen jeden engagierten (Cis-)mann der im Kleinen und Großen Viel zu positivem Wandel beitragen kann. Jeder Mann kann einen Beitrag leisten, einfach dadurch, sich mit sich selbst und der eigenen Männlichkeit und Persönlichkeit zu beschäftigen. Ich beobachte, dass es immer mehr progressive Männerkreise gibt und engagierte Leute, die kritische Männer*arbeit leisten.
Aber – so glaube ich – genauso wie es bei Corona nun einen Wellenbrecher und Lock-down braucht, oder bei der Klimakrise eine radikale Reduktion des CO2 Ausstoßes, braucht es auf der politischen Ebene eine Männer*pause.
Männer sollen nicht aufhören zu arbeiten, ihre Expertise zur Verfügung stellen und all die Beitrage leisten und Dinge machen, die Männer* machen: ABER Entscheidungsmacht und Leitung sollen an andere Geschlechter abgegeben werden, für zumindest mal 50 Jahre.
Hört sich wahnhaft und lächerlich an? Vielleicht, aber die patriarchale Welt, so wie sie ist, ist es nicht weniger wahnhaft und lächerlich, wenn ich ehrlich bin.
Für das Ziel zu versuchen unser aller Überleben zu sichern, erscheint es mir 50 Jahre auf Machtpositionen zu verzichten, ohne die Verantwortung für den eigen Beitrag, abzugeben, eigentlich als durchaus realistisch.
Um den Bogen zum Lichterfest, der dunklen Jahreszeit und spirituellem Wachstum zu schließen. Vielleicht bedeutet spirituelles Wachstum und Frieden für Cis-Männer* zu lernen auf Macht zu verzichten, abzugeben und Frauen und andere Geschlechter mehr in ihrem Leben zu unterstützen.
Was für eine Welt wäre möglich?
Wie würde ein medizinisches System und Gesundheitsprävention außerhalb patriarchaler Denkweisen aussehen?
Wie würde ein Wirtschaftssystem aussehen?
Wie würden wir mit Kindern, jungen Menschen umgehen?
Wie könnten sich junge Männer entwickeln, welches Verhältnis zu ihrem Körper wäre möglich?
Was können wir von Kulturen lernen, die andere Geschlechtersysteme oder Vorstellungen haben?
Wie würde sich Männer*gesundheit verändern, wenn Männlichkeiten auperhalb von Machtstreben, Status und wirtschaftlichem Erfolg konstruiert wird?
Viele Fragen auf die ich keine Antwort habe. Was ich aber weiß ist: Es gibt genug tolle Frauen* und andere Geschlechter, die Raum und Macht haben sollten. Es kann auch ein Beitrag sein, sich diesen Menschen einfach nicht in den Weg zu stellen, und sie ran zu lassen.
Also – an die männlichen Leser* – tastet Euch regelmäßig ab, geht zum Arzt / zur Ärztin und gebt den Frauen* , Trans* und genderqueeren Menschen die Macht!
#Movember