Letzte Woche habe ich – ausgelöst durch ein Gespräch mit einem Freund und einer Dokumentation – wiedermal sehr viel über Hochsensibilität nachgedacht.
Ich wollte schon seit ein paar Monaten darüber schreiben, da ich dieses Wort ja auch im Konzept dieses Blogs zusammen mit schwul, spirituell und quer-feministisch erwähne. Ich verwende dieses Wort hochsensibel heute selbstbewusst und ganz normal, aber es ist kaum zwei Jahre her, dass ich durch ein Gespräch mit einem Freund überhaupt von diesem Wort und dem dahinterstehenden Konzept der Psychologin Dr. Elaine Aron kennengelernt habe.
Die Initialzündung
Ich erinnere mich noch genau an die Situation. Ich saß mit meinem Freund A* im Südblock, einem queeren Café in Kreuzberg. Wir beiden mögen diesen Ort sehr, da es einfach ein einladender Ort für sehr diverse Menschen ist. Das Kaffee ist besucht von schwulen, lesbische, bi-pansexuellen trans* und queere Menschen, People of Colour und auch mal von den heterosexuellen Anreiner_innen und muslimischen Frauen mit Kopftuch. Wir beide mögen diesen Ort sehr, aber an diesem Tag in der kalten Jahreszeit war das Kaffee voll und es war einfach unglaublich laut, sodass mir fast schwindelig wurde. Es war eine echt krasse Kulisse von Stimmen-wirr-warr, Klingen von Tassen und Gläsern, Menschen die vorbei gehen usw.
Wir entschlossen uns zu gehen und stellten fest, dass wir beide fix und fertig waren. A* sagte dann zu mir: Weißt du, für uns hochsensible Menschen ist das halt nicht so einfach zu verarbeiten, wie für andere. Ich war überrascht. Ich fragte ihn, ob er denke, dass ich hochsensibel wäre und wusste nicht, was ich davon halten oder wie ich dazu stehen sollte. Ich hatte auch gar keine Ahnung, was er meinte. Mein Freund wiederum war total überrascht, dass ich mich selbst nicht so sehe und fragte, ob ich mich nicht als hochsensibel beschreiben würde. Ich dachte nach und sagte ihm, dass ich dazu wenig wisse.
Beim nach Hause gehen bemerkte ich, dass ich in unserem Gespräch etwas ablehnend oder defensiv reagierte. Es macht ja auch prinzipiell Sinn, wenn man ein „Label“ von einer anderen Person übergestülpt bekommt. Ich nahm wahr, dass es sich so „negativ“ anhört, hochsensibel zu sein. Ich wollte nicht zu „sensibel“ sein, da ich es damit gleichsetzte, schwach, nicht leistungsfähig und anstrengend und mühsam zu sein.
Und dann hat es mich getroffen. Ich habe gecheckt, dass das voll die starke Selbstabwertung wieder ein mal ist. Denn ich bin natürlich so, also sensibel. Ich hatte mein Leben lang das Gefühl nicht „hart“ genug, nicht -wiederstands fähig genug zu sein, ich war in meiner Familie und anderen Kontexten oft der, „der dauernd irgendwas anspricht“ oder mit seinem gefühlsbetonten Gedanken irgendwie Stress auszulösen schien. Auch wenn es selten ausgesprochen wurde, hatte ich verstanden, dass so viel zu fühlen, wie ich es tue, nicht erwünscht, oder für andere eine Belastung ist.
Ich begann m zu recherchieren und laß mich in die Thematik ein und stellte mehr und mehr fest, wie sehr ich mich in dem, was ich las, wiederfand. Seit ich mich erinnern kann, gab es dieses Gefühl, dass mit mir etwas nicht „stimmt“, ich empfand so Vieles im Leben so furchtbar anstrengend. Ich verglich mich oft mit anderen Menschen und konnte einfach nicht verstehen, wie Vieles für andere so leicht zu gelingen schien, und sich die selben Dinge für mich so schwer anfühlten. Je mehr ich laß, desto mehr fand ich mich wieder und ich fühlte mich so gesehen. Alles schien Sinn zu machen, wenn ich es mit dieser Brille auf mich und mein Leben schaute: ich bin ein hochsensibler Mensch.
Was ist Hochsensibilität?
Der Begriff geht auf eine amerikanische Psychologin Dr. Elaine Aron zurück, die Anfang der 1990er das Buch „The highly sensitive person“ schrieb. Mittlerweile gibt es immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse dazu, wobei das Wissen in der breiten Gesellschaft noch immer recht wenig vorhanden, bzw. sehr dünn ist.
Dr. Elaine Aron beschreibt, dass circa 20% der Menschen hochsensibel sind, diese Eigenschaft aber auch bei vielen Tierarten beobachtet und beschrieben wurde. Es ist eine Varianz von Persönlichkeitsmerkmalen und ein Teil der Natur.
Hochsensible Menschen können extro- und introvertiert sein, werden aber oft als „schüchtern“ gesehen, oder missverstanden und in der westlichen, patriarchalen und kapitalistischen Gesellschaftsordnung wurde und wird diese Eigenschaft bis heute abgewertet.
Die Psychologin beschreibt Hochsensibilität mit vier Kernmerkmalen:
- Tiefe der Informations-Verarbeitung (depth of processing)
- Über-stimulierung (over stimulation)
- Kapazität für Mitgefühl und Empathie (empathy)
- Wahrnehmen von subtilen Nuancen (sensitivity to subleties)
In meinen Worten Kurz zusammengefasst, sagt sie, dass das Nervensystem und die Verarbeitung der Wahrnehmung und Information bei hochsensiblen Menschen einfach etwas anders funktioniert, viele Dinge intensiver wahrgenommen werden und deswegen braucht die Verarbeitung der Information dann auch mehr Energie und Zeit.
Das führt bei vielen Menschen z.B. dazu dass sie sich stärker zurückziehen müssen, oder Situationen mit vielen Reizen eher meiden, einfach weil die Verarbeitung und Integration mehr Zeit und Raum braucht.
Da ich dies nie so bewusst wahrgenommen oder verstanden habe, hat es bei mir dann dazu geführt, dass ich mich als „falsch“, nicht „hart, tough“ genug empfand und mich selbst abwertete, einfach,weil mir vieles zu viel war und ist, oder ich einfach lange über Dinge grüble, bei denen andere schon wieder beim nächsten Thema sind.
Ich hatte mein Leben lang irgendwie das Gefühl in dieser Welt nicht richtig funktionieren zu können. Mein Selbstwert war dementsprechend sehr niedrig und ich habe lange versucht, den mit Leistung und Beliebtheit zu kompensieren, worüber ich ja z.B. schon beim Hochstapler Syndrom und der Frage nach Authentizität reflektiert habe. Zu sehen, dass Selbstwertprobleme für ganz viele hochsensible Menschen ein ähnliches Thema ist, finde ich super entlastend und bestärkend für mich.
Hochsensibilität als Superpower
Je mehr ich mich mit Hochsensibilität beschäftigte, desto mehr verstand ich, wie dazu eine ganze gesellschaftliche Ebene und Ordnung von Abwertung von dieser Qualität dazu kommt. Unsere Welt ist eine Welt, die eben nicht von hochsensiblen Menschen regiert und gestaltet wird.
Ganz im Gegenteil befördernd die kapitalistischen Strukturen narzisstische und egoistische Menschen. Es werden meistens die gehört, die am lautesten sind und wir haben verschiedene Machtsysteme aufgebaut, die manche Menschen, auf kosten anderer begünstigen (Patriarchat, weiße Vorherrschaft, Cis-heteronormativität, Ableism usw.) für deren Existenz das Fehlen von Empathie ja grundlegend ist.
Durch die Auseinandersetzung mit Hochsensibilität habe ich mehr und mehr gelernt diese Persönlichkeitsstruktur oder -eigenschaft in mir wertzuschätzen. Dr. Elaine Aron sagt z.B., dass wie auch Autismus oder andere Varianzen der menschlichen Persönlichkeit und Fähigkeiten, Hochsensibilität aus evolutionärer Sicht ein Vorteil ist.
Das Überleben von Menschen hängt vor allem damit zusammen, wie Menschen in Gruppen miteinander kooperieren und wie gut sie auf Umweltreize und Zeichen reagieren können. Wenn ein Teil der Menschen da sehr sensible und sensibler als andere sind, können sie eben mehr und schneller wahrnehmen. Sie können ebenso schneller subtile Stimmungen in Gruppendynamiken erspüren und haben durch die empathischen Fähigkeiten mehr Möglichkeiten auf positive Beziehungen in der Gruppe einzuwirken. All das hat aus evolutionärer Sicht Vorteile und ist eine Superpower.
Ich befinde mich seit den letzten zwei Jahren in einem Prozess darin, diesen Anteil von mir besser zu verstehen und eben meine Superpower darin zu entdecken. Dies ist ein intensiver Prozess, denn es fühlt sich für mich so an, als ob ich 20 bis 30 Jahre von Abwertung dieser Eigenschaft nach und nach bearbeiten und transformieren muss. Aber ja Corona bringt ja so einiges ans Tageslicht und Berlin sowieso und so sage ich heute selbstbewusst: I am highly sensitive, take me as I am, or leave me alone.
Diesen Artikel zu schreiben ist dahingehend ein Baustein und der nur der erste Teil einer Serie. Ich werde demnächst die vier Bereiche von Hochsensibilität mehr vorstellen, darüber schreiben, wie es war als hochsensibler Mensch Krebs zu überleben, meine Kindheit und Jugend betrachten und darüber erzählen, welche Auswirkungen und Herausforderungen damit einhergehen, in der schwulen Szene und Dating-kultur teilzuhaben.
Wie siehst du dich? Was weißt du über Hochsensibilität? Hörst du das zum ersten Mal?oder wann und wie hast du darüber erfahren?
Schreibe mir gerne darüber. Ich bin sehr interessiert daran zu erfahren, wie dieses Thema in meinem Umfeld und Leser_innenschaft betrachtet wird!
Ich wünsche dir und uns allen, dass wir gut durch diesen Covid -Winter kommen. Schau auf dich und schauen wir auf einander!
Ressourcen
The highly sensitive person – Buch und Homepage Dr. Elaine Aron