„If you didn’t learn to say no, our bodies might do it for us, in the form of illness“
„Wenn du nicht gelernt hast Nein zu sagen, tut es unser Körper vielleicht für uns, in der Form von Krankheit“.
Dr. Gabor Maté
Gerade sitze ich in einem Guesthouse umgeben von tropischem Regenwald auf Sumatra, im Westen von Indonesien. Hier genieße ich Ruhe in einer Umgebung ohne Autos und den Fakt, dass es nur am Abend, wenn der Generator läuft, Internetzugang gibt. Ich bin gerade auf einer dreimonatigen Reise, die nun langsam zu Ende geht. Warum schreibe ich das in der Einleitung zu dieser Überschrift, frage ich mich gerade? Da gibt es einiges zu erzählen, was ich in diesem zweiteiligen Artikel versuchen möchte. Jedenfalls habe ich hier begonnen ein Hörbuch zum zweiten Mal zu hören, auf welches ich schon vor einem Jahr gestoßen bin. Die Inhalte und die Persönlichkeit des Autors finde ich so dermaßen spannend und wichtig, dass ich motiviert wurde, einen neuen Artikel darüber zu schreiben.
Das Buch heißt auf Englisch „When the body says no. The cost of hidden stress“, also auf Deutsch: Wenn der Körper Nein sagt. Die Kosten von verdecktem Stress, von Dr. Gabor Maté, einem kanadischen Arzt. Als ich Gabor Maté entdeckte, war er für mich als Krebspatient, wie ein Geschenk. Ein Schulmediziner, der seinen Patient_innen lange zuhört, sie nach ihren Lebensumständen und Ideen fragt, warum eine Krankheit gerade zu diesem Zeitpunkt ausgebrochen ist? Das klang für mich super spannend.
Was ich als Grundthese von ihm verstehe ist, dass Körper und Geist / Psyche nicht getrennt voneinander zu verstehen sind, und es sich deswegen lohnt, nach den psychischen und psychosozialen Faktoren zu fragen und forschen, die zu Stress führen und damit zu einer Erkrankung beitragen können. Er sagt überspitzt: „If you didn’t learn to say no, our bodies might do it for us, in the form of illness“. Er sagt also, dass wenn wir nicht gelernt haben Nein zu sagen und für uns einzustehen, kann es sein, dass unser Körper durch Krankheiten für uns nein sagt. Gabor Maté spricht viel über Authentizität, die Fähigkeit zu sich zu stehen, gesunde Grenzen und Selbstwert als gesundheitsfördernde Qualitäten und Eigenschaften.
Weg von Scham und Schuld hin zu Verstehen und Autonomie
In einem anderen Artikel habe ich schon darüber geschrieben, wie wichtig es für mich war, das Gefühl zu haben, meine Erkrankung und die Therapie beeinflussen zu können und einen aktiven Part darin einzunehmen. Dieses Gefühl von Macht und den Handlungsspielraum im eigenen Leben wahrzunehmen, ist auch nichts, was sich mit Schulmedizin widerspricht und etwas, das immer mehr von Patient_innen auch eingefordert wird, natürlich stark abhängig von Ärzt_innen, Teams, Praxen und Krankenhäusern.
In seinem Buch spricht der Autor ein Thema an, mit dem auch ich mich lange Zeit beschäftigt habe. In Bezug auf beispielsweise Krebs , gibt es immer wieder Menschen, die sich mit der Frage beschäftigt haben, ob es so etwas wie Persönlichkeitsmerkmale gibt, die bei Menschen mit Krebserkrankungen häufiger zu finden sind. Louise Hay, eine spirituelle Lehrerin, welche sich selbst von Gebärmutterhalskrebs geheilt hat, hat viel über Emotionen und Erkrankungen geschrieben (jedoch komplett unwissenschaftlich). Sie hat beispielsweise tiefen Groll und unterdrückte Wut als Faktoren benannt, welche dazu führen, dass Geschwüren im Körper entstehen können.
Von schulmedizinischer Seite, wurden solche Zugänge natürlich als unwissenschaftlich, esoterisch und falsch abgetan werden. Auch in mehreren psychoonkologischen Broschüren habe ich immer wieder gelesen, dass es nicht stimmt, dass es Krebspersönlichkeiten gibt, oder dass man selbst zu einer Krankheit etwas beigetragen hat, oder gar Schuld ist, dass die Erkrankung eingetreten ist. Dies ist ja auch komplett richtig. Ich denke nicht, dass ich „schuld“ daran bin oder aktiv daran mitgewirkt habe, Krebs zu bekommen. Jedoch werden hier zwei Dinge vermischt und ich finde, dass Dr. Gabor Maté sehr klar auseinander differenziert hat, worum es eigentlich geht.
Chronischer Stress und kindheitliche Prägungen
Er sagt, dass es nicht darum geht eine Person zu beschuldigen, sondern ganz im Gegenteil darum, zu verstehen, wie psychische Muster oder Lernerfahrungen zu stabilen Persönlichkeitsmerkmalen werden, die zu chronischem Stress beitragen können. Dieser kann wiederum in Kombination mit Faktoren wie genetischer Vulnerabilität, toxischen Umwelteinflüssen und vielem Weiteren, zum Ausbruch einer Krankheit in einem Menschen und nicht in einer anderen Person führen.
Gabor Maté erklärt, dass es wissenschaftlich unhaltbar ist Krankheiten als Art persönlichen Fehler oder Schuld eines Menschen anzusehen. Menschen, die leiden, noch zusätzlich dafür zu beschuldigen oder zu beschämen, ist für mich nichts anderes als psychische Gewalt. Der Autor versucht zu zeigen, dass chronischer Stress zahlreiche Einflüsse auf das Immunsystem hat. (dazu habe ich schon mal hier geschrieben) und somit ein wesentlicher Faktor für die Entstehung von Krankheiten ist. Gabor Maté fügt psychische Faktoren und verfestigte Verhaltens- oder Persönlichkeitsmuster zu möglichen Stressfaktoren hinzu. So zählt er Isolation / Einsamkeit, emotional ungesunde Beziehungen, Mangel an Selbstwert, Angst vor einer strafenden Gottesgestalt oder die Unterdrückung von Emotionen als chronische Stressoren auf.
In einem weiteren Schritt verweist der Autor auch darauf, dass vieles an unseren Verhaltensmustern Resultate aus frühkindlichen Erfahrungen und Prägungen sind, die uns primär aus dem Unterbewussten heraus steuern.
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Was ich an Gabor Maté’s Buch und ihm so großartig finde, ist dass er sehr offen auch über eigene Erlebnisse schreibt, und sich nicht als Experte darstellt, der von einer vermeintlich neutralen wissenschaftlichen Position als gesunder Arzt über kranke Menschen schreibt. Er erzählt von einem Beispiel, dass ich sehr anschaulich finde
Eines Abends hat er seine Mutter in ihrer Pflegeeinrichtung besucht. Am selben Tag, hat er sich einem kleinen operativen Eingriff am Knie unterzogen und musste deswegen etwas hinken. Als er das Zimmer seiner Mutter betrat, hat er jedoch unbewusst und automatisiert sein Hinken verborgen und ist ganz normal an ihr Bett herangetreten. Erst nachdem er gegangen war, ist ihm aufgefallen, wie spannend und auch komisch diese Situation ist. Er war selbst so erstaunt, weswegen er diese Kleinigkeit eigentlich verheimlicht. In dieser Situation gab es keinen logischen Grund, seine minimalen Knieschmerzen und das Hinken, zu verheimlichen. Er reflektiert dann seine Lebensgeschichte und erkennt, wie diese automatisierte Handlung aus den Prägungen und Lernerfahrungen seiner frühen Kindheit resultiert und komplett unbewusst ablief. Er schreibt über die Traumatisierungen seiner Familie als Überlebende des Holocaust. Gabor Maté wurde im jüdischen Ghetto in Budapest geboren. Seine Familienangehörigen wurde entweder getötet, verschleppt oder in Konzentrationslager gebracht. Seine Mutter musste ihn, als er ein Jahr alt war, kurzzeitig in die Obhut anderer Menschen abgegeben, da sie sicher war, dass er sonst im Ghetto verhungern würde. Er reflektiert, dass aufgrund der traumatisierenden Umstände, in denen sie lebten, es seiner Mutter nicht möglich war, eine sichere, auf bedingungsloser Liebe fußenden Präsenz für ihn zu kultivieren. Er hat als Kind früh gelernt, seine Mutter vor seinen eigenen Schmerzen zu beschützen, da diese im alltäglichen Überlebenskampf genug belastet war. Dieses Muster hat sich in ihm fest eingeschrieben, sodass es auch nach mehreren Jahrzehnten aktiv ist und zu der beschriebenen Situation führte.
Gabor Maté plädiert dafür sich dem Fakt zu stellen, dass viele unserer Persönlichkeits- und Verhaltensmuster durch das Unterbewusstsein und frühkindliche Prägungen gesteuert werden. Wir alle, und besonders Menschen mit traumatischen Erfahrungen, haben Programmierungen erhalten, die zu chronischen Stress führen können. Wir können uns diesen Mustern nur mehr oder weniger bewusst sein, aber zu einem bestimmten Grad wirkt das Unbewusste, immer auf uns und unsere Handlungen ein. Niemand hat dafür Schuld. Auch Eltern können nur mit ihren unbewussten Prägungen das Beste versuchen. Und wir alle leben auch in gesellschaftlichen Kontexten, die mehr oder weiger gesund sind und sich wiederum durch unzählige unbewusste Lernerfahrungen in uns einschreiben.
Gabor Maté schreibt dann ausführlich über verschiedene Erkrankungen und unzählige Forschungsergebnisse aus dem Gebiet der Körper-Geist-Medizin. Er eröffnet die Möglichkeit, dass eine (therapeutische) Auseinandersetzung mit unseren unbewussten Programmierungen, auch einen Effekt auf die Prognose von z.B. Krebs- und anderen -erkrankungen haben kann. Er schreibt, dass für Heilung, jede noch so kleine Information und Erkenntnis wichtig sein kann und unterstreicht, dass es darum geht, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung heißt auf Englisch responsability. „Response“ heißt antworten und „ability“ Fähigkeit. Aus dem englischen Kontext beschreibt er Verantwortung, als die Fähigkeit (adäquat) auf eine Situation zu antworten. Es geht darum die Autorität über unser Leben zurückzugewinnen, Lernen und Heilung zu ermöglichen und nicht um Beschämung oder Schuldzuweisungen.
„So in demonstrating that self-repression is a major cause of stress and a significant contributor to illness, I do not point fingers at others for „making themselves sick“. My purpose in this book is to promote learning and healing, not to add to the quotient of blame and shame, both of which exist already in overabundance in our culture.“ (Gabor Maté – When the body say’s no: Chapter 1)
Vielleicht habe ich dein Interesse an diesem Autor und dem Buch geweckt oder du hast Lust eines der Videos anzusehen. Leider wurde das Buch Im zweiten Teil des Artikels werde ich mehr zu meiner persönlichen Geschichte und Überlegungen zu Gabor Maté’s Arbeit schreiben. Fortsetzung folgt.
Links und Quellen
Erstes Kapitel zum nachlesen (Englisch)
Video: When the body says no (Englisch)
Interview auf dem Portal „Democracy now“ mit deutscher Transkription
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