„Vergebung ist ein Geschenk, das ich mir jetzt selbst mache“
Louise L. Hay
Durch Bücher, Vorträge und Meditationen von Louise Hay lernte ich kennen, wie problematisch negative Gedanken, wie Selbstabwertung und -vorwürfe sowie Schuldgefühle sein können. Und ich lernte, wie Vergebung ein zentrales Tool ist, sich mehr und mehr von Dingen, Mustern und Einstellungen zu befreien, die meinem persönlichen Vorwärtskommen und meiner Heilung nicht dienlich sind. Sie prägte einen Satz, der sich in mein Gehirn eingebrannt hat und der mir sehr lehrreich und hilfreich war: „Ganz gleich, wo im Leben Sie sich gerade befinden, ganz gleich, was Sie in ihrem Leben erschaffen haben und was Ihnen gerade geschieht. Sie geben mit dem Ihnen zur Verfügung stehenden Wissen und Verständnis stets Ihr Bestes“ (Louise Hay 2015: 32f.).
Es geht also zunächst einmal darum, sich selber zu vergeben. Für all die Fehler oder Dinge, die schief gelaufen sind. Es geht darum zu lernen und es im Hier und Jetzt, auf der Basis dieser neuen Erkenntnisse, anders zu machen. Ich möchte noch kurz etwas einwerfen. Für mich war das Wort „Vergebung“ durch gewisse christliche oder katholische Bilder sehr negativ geprägt. Menschen aus der katholischen Kirche, genauso wie aus anderen Religionsgemeinschaften verwenden dieses Wort gerne, ohne Verantwortung für Gewalt, Misshandlung und sonstiges diskriminierendes und schadhaftes Verhalten zu übernehmen. Vergeben hängt auch mit Verantwortung übernehmen und Wiedergutmachung zusammen.
Ich spreche von meiner Erfahrung, das tief sitzender Groll und Wut auf mich oder Andere mir oft sehr viel Kraft abgezapft haben, und es noch immer tun. Als ich mit der Möglichkeit konfrontiert war, ob ich vielleicht nicht mehr ewig auf dieser Welt bleiben werde, war mir klar, dass, wenn ich sterben muss, ich nicht mit Gefühlen von Wut, Groll, Hass und Vorwürfen gegenüber anderen Menschen und auch gegenüber mir selbst sterben möchte. Und dann habe ich mir gedacht: Wenn ich mit diesen Gefühlen nicht sterben möchte, warum sollte ich dann ihnen weiterleben, wenn ich wieder richtig gesund werde? Somit möchte ich im folgenden Artikel möchte ich zeigen, dass (der Versuch) uns selbst und anderen Menschen zu vergeben, Energien frei setzen kann und zwei Werkzeuge vorstellen, die vielleicht hilfreich sein können.
1. Sich selbst vergeben
Ich glaube wir alle haben durch unsere Persönlichkeitsstruktur, Familien, Erziehung Sozialisation, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Geschichte bestimmte Muster und Verhaltensweisen entwickelt, die gewisse Dinge und Erfahrungen hervorbringen und andere eben nicht. Wenn wir selber und andere Menschen gewisse Verhaltensweisen zeigen oder zu bestimmten Dingen nicht fähig sind, bringt es relativ wenig, sich darüber aufzuregen und eine Geschichte zu starten „warum, was und wieso“ sich diese Person so verhält oder oder ich mich selbst so verhalte. Es hat mir viel Entspannung gebracht, mit einem neugierigen, offenen, nicht-wertenden Nachfragen an die Sache heran zu gehen.
Ich war bis zu meiner Krebserkrankung ein Mensch mit sehr vielen Ängsten und ständigen Sorgen. Ich wollte immer alles richtig machen und von allen anderen gemocht und akzeptiert werden. Selbst habe ich mich ständig abgewertet, kritisiert und ich war nie „gut genug“. An einem Punkt nach der Diagnose ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Ich war dann wirklich nicht verwundert, dass mein Körper so krank wurde. Ich habe bemerkt, dass ich permanent unter Strom und Anspannung stehe und realisiert, wie selbstschädigend, das für mich war.
Auch nach der Diagnose habe ich mir sehr lange Vorwürfe und Schuldgefühle gemacht. Beispielsweise darüber, dass meine Erkrankung schon im Stadium 3 fortgeschritten war und ich es „nicht früher bemerkt hatte“. Zusätzlich zu der ohnehin schon beschissenen Situation an einer potentiell tödlichen Krankheit zu leiden, habe ich es also auch noch geschafft mir die „Schuld“ zu geben, dass es so weit gekommen ist.
Ich habe mit Louise Hays Ansatz dann viel daran gearbeitet, mir selber zu vergeben. Mir zu vergeben, dass ich mich ständig abgewertet, unter Druck und Stress gesetzt habe. Mir zu vergeben, dass ich mir gegenüber so lange so hart war, hohe Ansprüche hatte und immer mehr wollte und auch andere Menschen oft sehr hart behandelt habe. Mir zu vergeben, dass ich in manchen Situationen nicht so reagiert oder mich verhalten habe, wie ich das von mir gerne gehabt hätte. Mir zu vergeben, dass ich ständig Schuldgefühle und Ängste erzeugt habe. Und schließlich habe ich mir vergeben, dass ich krank geworden bin und habe „beschlossen“, dass ich keine Lust mehr auf dauernde Scham und Schuldgefühle. Scham kann auch ein wichtiger Hinweiser auf eine Situation sein, inder ich nicht so reagiert habe, wie ich das mit meinen moralischen Prinuipien gerne würde. Aber es gibt auch viel Scham, die mich nur festkettet und unfrei macht, und diese versuche ich mehr und mehr zu transformieren.
2. Anderen Vergeben ist ein Beitrag zur Selbstheilung
Besonders wenn Gefühle von Wut, Ärger und Enttäuschung über andere Menschen, die uns sehr nah sind, auftauchen, kann es ein langer Weg sein, sich davon zu lösen. Louise Hay spricht offen darüber, dass sie als Kind Gewalt und sexuellen Missbrauch erlebt hat. Als sie an Gebärmutterhalskrebs erkrankte, stellte sie für sich fest, wie stark die Wunden aus ihrer Kindheit noch wirkten. Sie nahm sehr viel Wut auf ihre Eltern wahr, von der es schwer war, sich zu lösen. Dann hat sie begonnen zu recherchieren und über die Geschichte, Kindheit und Lebensumstände ihrer Eltern mehr herauszufinden. Sie erkannte, dass auch ihr Vater missbraucht wurde und beide ihrer Eltern viel Gewalt erlebt hatten. Es deckt sich auch mit buddhistischen und queer-feministischen Zugängen, nach den Bedingungen und Hintergründen für die Enstehung von Phänomenen zu fragen.
Vor einiger Zeit habe ich ein unglaublich starkes Video entdeckt, das mich sehr bewegt hat. Es erzählt die Geschichte von Eva Mozes Kor, Eine der letzten Überlebenden des Holocaust. Sie wurde als Kind zusammen mit Ihrer Zwillingsschwester nach Auschwitz deportiert und vom Naziarzt Josef Mengele für medizinische Experimente in der Zwillingsforschung missbraucht. Ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Eva Mozes Kor hat nach dem Krieg begonnen die anderen ausgebeuteten Zwillinge zu finden und die Erfahrungen in einem Projekt und später Museum in den USA zusammengetragen.
Im Zuge ihrer Tätigkeiten als Sprecherin als Holocaust Überlebende hat sie den SS Arzt Hans Munch kennengelernt, welcher in Auschwitz an der Ermordung von tausenden Menschen beteiligt war. Sie wollte, dass er eine Erklärung unterschreibt, in der er die systematische Ermordung von Menschen in den Gaskammern bestätigte. Eva Mozes Korn wollte ein schriftliches Eingeständnis eines Nazis über die eigen Mitverantwortung und eine Bestätigung der Existenz von Gaskammern haben. Im Gegenzug hat sie nach einer Weile einen Brief verfasst, indem sie persönlich den Nazis für ihre Verbrechen vergab. Dies hat besonders in jüdischen Gemeinschaften auch sehr widersprüchliche Reaktionen ausgelöst.
Eva Mozes Kor sagt, sie hat etwas entdeckt, dass ihr Leben verändert hat. Für fünfzig Jahre fühlte sie sich als Opfer der Nazis. Durch den Willen zu Vergeben hat sie gespürt, dass sie die Macht über die Täter* hat. Niemand konnte ihr diese Macht wegnehmen und sie hat die vollkommene Kontrolle darüber, wie sie diese einsetzt.
Sie sagt, es war für sie hilfreich, da sie sich als Opfer so verletzt, hoffnungslos, hilflos und machtlos gefühlt hat. Durch ihren Brief hat sie ein Gefühl von Ermächtigung, Kontrolle und Heilung erfahren. Sie sagt in diesem Video: „What is my forgivness? It is an act of self healing, self liberation and self empowerment“ Auf Deutsch: Was ist Vergebung? Es ist ein Akt von Selbstheilung, Selbstbefreiung und Selbst-ermächtigung“. Eva Mozes Kor hat ihre Lebensgeschichte auch in einem Buch zusammengeführt mit dem deutschen Titel „die Macht des Vergebens“.
Während ich krank war, habe ich schon bei Louise Hay gedacht: Wenn eine Frau dem Menschen, der sie sexuell missbraucht hat, vergeben kann, dann kann auch ich es schaffen, den Menschen zu vergeben, auf die ich zwar wütend bin wegen etwas, das aber nicht annähernd so schlimm war, wie so etwas.“ Wenn Eva Mozes Kors Geschichte hören und sehe wie stark und klar sie wirkt, indem, was sie über Vergebung gelernt hat, bekomme ich richtige Gänsehaut.
Diese beiden Beispiele sollen einfach zeigen, wie stark Vergebung positiv auf uns selbst wirken kann. Es geht nicht darum eine großzügige Geste zu setzen, sondern darum sich selbst zu befreien. Und es braucht Verständnis, Dialog, und/oder die Bereitschaft von Täter*seite Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Das Zitat, das ich am Anfang dieses Artikels erwähnt habe, bringt das für mich auf den Punkt. Vergebung ist ein Geschenk, dass wir uns selbst machen können.
Ich bin durch meine Erkrankung phasenweise dazu gekommen zu vergeben. Dann gab es aber auch wieder Rückschritte, und alte Enttäuschungen und Wunden sind wieder zurückgekommen. Ich glaube also, dass es bei Vergebung wie bei Vielem Anderen, ein Prozess verschiedenen Phasen ist.
3. Zwei Werkzeuge
Affirmation „Ich bin bereit zu vergeben“ und Emotionen zulassen
Ich denke, es ist wichtig, an dieser Stelle zu erwähnen, dass das Thema Vergebung keinen Druck erzeugen soll. Es ist eine Möglichkeit mit Stress auslösenden, unsere Resilienz und Selbstheilungskräfte hemmenden Emotionen, zu arbeiten. Grundlage ist jedoch eine achtsame Haltung und mit dem zu tun, was ist. Wenn ich z.B.spüre, dass ich wütend gegenüber einem Menschen bin, dann versuche ich die Wut nicht zu unterdrücken und mir einzureden, dass es besser für eine Gesundheit wäre, wenn ich diese Wut loslasse und der Person vergeben würde. Sondern ich versuche die Emotion zuzulassen und keinen Widerstand zu erzeugen. Irgendein weiser Mensch, den ich jetzt leider nicht erinnere, sagt: Loslassen bedeutet zunächst einmal zulassen. Beim Thema Vergebung schwingt eine hohe Gefahr mit, Emotionen, die Aufmerksamkeit brauchen, zu unterdrücken, was nicht im Sinne von Heilung ist.
Wenn du irgendeinem Menschen gerade jetzt nicht vergeben kannst, ist das vollkommen okay. Louise Hay bietet einen brauchbaren Vorschlag in dieser Situation,wie ich finde. Sie schlägt vor, mit der Affirmation zu arbeiten, die lautet: „ich bin willens zu vergeben“ und darauf zu vertrauen, dass zum richtigen Zeitpunkt die Vergebung eintreten darf. Übersetzten kann man das auch damit, dass man bereit ist, Groll und Wut, die in einem selbst da sind, zuzulassen und sich so die Möglichkeit er geben, dass diese weniger Macht über uns und unseren Körper haben. Dadurch eröffnen wir in uns selbst die Möglichkeit, daran zu arbeiten, ohne zu leugnen, was die momentane Realität unserer Emotionen ist.
Wenn wir (noch nicht) vergeben können, kann das auch ein positives Zeichen sein. Es kann zum Beispiel darauf hindeuten, dass es mit einer Person noch etwas zu klären gibt, bevor man verzeihen kann. Wenn ein Mensch noch lebt und uns wichtig ist, gibt es ja vielleicht auch die Möglichkeit einer Aussprache oder Konfrontation. Andere Menschen, die uns Leid angetan haben, sind vielleicht nicht mehr am Leben, oder wir haben keine Möglichkeit Kontakt aufzunehmen. Wenn Vergebung noch nicht möglich ist, bietet es sich jedenfalls an mit den Energien von Schmerz, Wut oder Hass etwas zu tun und sie nicht unbearbeitet in sich „herumwirken“ zu lassen.
Die fünf Erdberührungen – ein buddhistisches Ritual
Auch ein Rituale hat mir sehr geholfen an meiner „Vergebungskompetenz“ zu feilen. Ein für mich starkes Erlebnis war ein Ritual, das ich im buddhistischen Kloster plum village in Frankreich kennengelernt habe. Es heißt auf Deutsch die „fünf Erd-Berührungen“ und wurde in der buddhistischen Tradition von Thich Nhat Hahn’s sozial engagierten Buddhismus entwickelt. Dabei geht es darum in fünf Schritten an unser Verbundenheit mit dem Leben und unsere Verwobenheit mit verschiedenen Vorfahrenslinien wahrzunehmen. Das Ritual ist also in die buddhistische Weltanschauung eingebettet, die besagt, dass alle Erscheinungen der Welt, miteinander verbunden sind, was Intersein oder Interdependenz / wechselseitige Abhängigkeit oder Verbundenheit genannt wird (auf Englisch interbeing / interdependence/ interconnectedness). Den ganzen Text und eine Anleitung für die Praxis findest du auf Englisch hier. Leider habe ich bis jetzt keine deutsche Übersetzung gefunden.
Bei Ritualarbeit bietet es sich natürlich immer an, an einer Gruppe teilzunehmen, unter professioneller Anleitung, da die Präsenz der Gruppe viel dazu beiträgt, etwas zu erfahren oder zu verstehen.Ich finde, aber dass dieser Text so stark ist, dass man auch allein durch das Lesen, eine Wirkung erzielen kann. Falls so etwas für dich neu ist, schlage ich auf jedenfall vor, dass du dir einen guten und angenehmen Rahmen dafür schaffst. Also Handy ausschalten, einen aufgeräumten Ort aussuchen, mit Kerzen, Symbolen, Klangschale, Blumen eine schöne Atmosphäre schaffen, Den Text auf schönem Papier ausdrucken und in einem verzierten Kuvert aufbewahren, usw.
Der Text ist ein Vorschlag und in der Anleitung wird auch erwähnt, dass wir dazu eingeladen sind, selber einen Text zu verfassen, der zu unseren Bedürfnissen passt. Das Ritual ist in fünf Schritte gegliedert. :
- 1. Kraft von der biologischen Familie / familiären Vorfahren
- 2. Kraft von spirituellen Vorfahren, Gemeinschaften
- 3. Kraft von Gesellschaft, Vorfahren, soziale und menschenrechtliche Errungenschaften
- 4. Liebe zu den Menschen,die wir lieben senden
- 5. Vergebung und Versöhnung mit Menschen, die uns Leid angetan haben
Nach jedem Schritt erfolgt eine Verbeugung und Kontaktaufnahme mit dem Boden, das heißt, dass man auf die Knie geht und dann auch die Stirn und Arme am Boden ablegt. Durch diese Körperposition, haben wir viel Kontakt mit dem Boden, also der Erde, was eine gewisse geerdete Qualität in das Ritual bringt.
Ich finde es sehr schön, dass mit den ersten drei Schritten zuerst Kraft gesammelt wird, von allen möglichen Vorfahren, die uns Energie geben können. Dann potenzieren wir die Energie, indem wir den Menschen,die wir, und die uns lieben, Liebe zukommen lassen. Erst dann im fünften Schritt lenken wir die Aufmerksamkeit, zu Menschen, die uns Unrecht oder Gewalt angetan haben, und in der so etwas wie Vergebung möglicherweise stattfinden kann.
Der Text hat mich immer wieder sehr tief berührt, manchmal habe ich beim Lesen richtig weinen können, was sehr befreiend ist. Du kannst den Text selbst für dich lesen oder du hast die Möglichkeit in einer kleinen Gruppe zu praktizieren, und die kollektive Energie der Gruppe zu nutzen. Vielleicht findet der Text ja Anklang bei Dir. Probiert es einfach Mal aus!
4. Missverständnisse
Vergebung passiert in uns und heißt nicht keine Grenzen haben
Vergebung ist etwas, was vor allem innerlich stattfinde. Mir hat es geholfen zu erkennen, dass ich mehr Energien für meine Heilung und persönliche Entwicklung habe. Ich sage nicht, dass man alle Menschen lieben und Kontakt mit Menschen haben muss, die einem nicht gut tun. Wir haben zu jedem Zeitpunkt die Freiheit zu entscheiden, mit wem wir Kontakt haben wollen oder nicht und auch wie viel und welche Art von Kontakt, wir pflegen wollen. Es gibt Situationen, in denen es ein Zeichen von Selbstliebe und -respekt ist Beziehungen abzubrechen oder klar Nein zu sagen. Ebenso weiß ich, dass manchmal Menschen mit den Krebserkrankungen ihrer Angehörigen überfordert sein können und sich nicht so verhalten können, dass es für die betroffene Person hilfreich ist. Auch wenn du dich in einem Moment entscheidest, einen Kontakt nicht zu pflegen (Handlungsspielraum im Außen), kannst du trotzdem auf der inneren Ebene offen für Vergebung sein und Verständnis kultivieren.
Vergebung ist nicht zu jedem Zeitpunkt oder immer möglich
Manchmal können Wunden sehr tief sein und die Vorstellung (z.B.einem Gewalttäter*) vergeben zu müssen oder sollen nur noch wütender machen. Wenn ich bei mir gerade sehr viel Wut wahrnehme, dann versuche ich die Wut zuzulassen und etwas damit zu tun und denke nicht an Vergebung. Das kann zu einem anderen Zeitpunkt dann trotzdem passen. Es geht also nicht darum, sich zu zwingen zu vergeben, sondern einfach offen dafür zu sein, dass es eintreten darf.
Vergebung heißt nicht Menschen aus ihrer Verantwortung zu entlassen
Menschen müssen für ihre Handlungen Verantwortung übernehmen. Das gilt für uns alle. Es braucht meiner Meinung nach einen gesellschaftlichen Umgang mit Gewalttätern (zu einem geringeren Grad Täter*innen) und Menschen, die sich und andere gefährden, sowie mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die diese Gewalt erst hervorbringen und ermöglichen.
Eckhart Tolle verweist in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit weg von einem Denken von „Strafe“ hin zu sozialer Rehabilitation zu kommen. So könne man Maßnahmen wie auch Gefängnisaufenthalte als gesellschaftlich aus verhandeltes „Time Out“ auffassen, mit einem Konzept von sozialer Rehabilitation und dem Fokus auf die Möglichkeit von Heilung. Auch im Gefängnis und auch Menschen, die schlimme Gewalt ausgeübt haben, haben die Möglichkeit zu heilen und spirituell aufzuwachen. Es geht darum Menschen dabei zu unterstützen für ihr Verhalten Verantwortung zu übernehmen und dies ist natürlich nicht die Aufgabe von Opfern, sondern der Gesellschaft.
Vergebung erfolgt in Schichten
Meiner Erfahrung nach ist an Vergebung zu arbeiten schwierig und ein Prozess mit einer Pendelbewegung. Mal schlägt es in die Richtung von „Sich-lösen“ aus, und dann kommt wieder Wut und Enttäuschung zurück. Wenn wir an uns arbeiten, gehen wir schrittweise immer tiefer. Waltraud Eggenberger, eine Heilerin mit der ich lange gearbeitet habe, hat mir das Bild einer Zwiebel mitgegeben. Emotionen können wie eine Zwiebel viele verschiedene Schichten haben. Wir sind in dem Bild dann Schichtarbeiter und lösen nach und nach Schichten einer Emotion,Verletzung oder eines Persönlichkeitsmusters auf. Wenn auf einer tieferen Ebene wieder etwas auftaucht, heißt das nicht, dass wir versagt haben oder falsch gemacht haben. Es heißt einfach, dass wir bereit sind, die tieferliegende Schicht anzugehen.
Vergeben meint nicht Zudecken
Bei allen möglichen Techniken, die aus spirituellen Ansätzen oder dem Bereich von Selbsterfahrung kommen, besteht für Praktizierende die Gefahr in spirituelles Vermeiden/Umgehen zu gehen. Das Konzept von „spiritual bypassing“ habe ich durch ein Buch von Robert Masters kennengelernt, wobei der Begriff nicht von ihm stammt. Jedoch ist damit gemeint, dass Menschen ihre Wunden, Verletzungen und Gefühle mit einer Schicht aus Spiritualität zudecken. Im Kontext von Vergebung kann das also bedeuten, dass unter einer oberflächlichen, nicht wirklich aus dem tiefsten Inneren kommender „Vergebung“, Konflikten und notwendigen Auseinandersetzungen aus dem Weg gegangen wird.
Ich habe auf meinem eigenen Heilungsweg oft spirituelles Vermeiden betrieben,bis ich mich genauer mit dem Konzept auseinandergesetzt habe. Ich war lange Zeit sehr konfliktscheu und lerne auf mühsamen Weg und Schritt für Schritt Dinge anzusprechen und Konflikte auszutragen oder Menschen Rückmeldungen zu geben, wenn es etwas gibt, das die gemeinsame Beziehung belastet oder stört. Besonders beim Thema Vergebung, musste ich sehen, dass immer wieder Schichten von Wut und Groll präsent sind und es mir oft nicht möglich ist authentisch zu vergeben und mit gewissen Dingen abzuschließen.
5. Fazit
Vergebung kann eine unglaublich ermächtigende Wirkung haben und uns von emotionalen Balast befreien. Es muss aber an der richtigen Stelle passieren und kann kein Ersatz für Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit den eigenen Verletzungen sein.
Meiner Ansicht nach ist es für unsere individuelle persönliche Heilung und für unsere kollektive gesellschaftliche Heilung wichtig, sich mit unserem Wunden auseinanderzusetzen und sie transformieren und lösen zu können. Vergebung kann hier ein Anteil an Heilung sein.
Wenn ich mir selbst vergeben kann, nicht immer perfekt gewesen zu sein, Fehler begangen zu haben und letztendlich menschlich zu sein, kann ich auch anders mit den Fehlern und verschiedenen menschlichen Aspekten meiner Mitmenschen beschäftigen.
Ich wünsche Euch viele interessante Erfahrungen mit diesem Ansatz.Ich freue mich über Rückmeldungen und Feedback!
Ressourcen
Louise L. Hay (2015): Wahre Kraft kommt von innen! Allegria im Ullstein Taschenbuch, Berlin, 5.Auflage
5 Erd-Berührungen – Plum village
Artikel Süddeutsche Zeitung über Eva Mozes Kor