Let’s face it: Krebs zu haben ist eine Krise. Und Krisen können wir nicht allein meistern. Eine der sechs Kategorien, in die ich die Ressourcenartikel einteile, ist Gemeinschaft. In dieser Sektion möchte ich meine Erfahrungen darüber teilen, wie soziale Beziehungen und Gemeinschaften heilend wirken können. In einem anderen Artikel habe ich schon ein paar Ideen von mir als Tipps und No Go’s für unterstützende Angehörige und Begleiter_innen geschrieben. Weiters möchte ich ein paar Gedanken über verschiedene Ebenen von Beziehungen (mit uns selbst und therapeutische Beziehungen, mit Freund_innen und Familie sowie in sozialen Gruppen, Gemeinschaften) beleuchten.
Es gibt auch interessante wissenschaftliche Forschung dazu, wie sich positive soziale Beziehungen und Gemeinschaft auf Gesundheit und Lebenserwartung auswirken.
Ich möchte aufzeigen, wie wichtig für mich sogenannte „Refugien“ sind und waren, also Gruppen oder Orte, an denen ich mich vollkommen akzeptiert und geliebt fühle. In noch folgenden Artikeln werde ich noch genauer über meinen Aufenthalt in einem Kloster in Frankreich und über das community center Village Berlin“ für schwule, bi-,pansexuelle,trans* und queere Männer* berichten. Starten möchte ich diese Ressourcen-kategorie mit ein paar Gedanken dazu, wie wir die Grundlage für heilsame Beziehungen, Freundschaften und soziale Kontakte, gestalten können.
„Von Vertrauen geprägte Beziehungen heilen, wenn wir uns sowohl öffnen als auch auf unsere Grenzen/Bedürfnisse achten können.“
Ich weiß gar nicht wie ich anfangen soll, und es schaffen kann, auch nur annähernd auszudrücken, wie glücklich ich bin, dass es so viele liebe Menschen in meinem Leben gibt. Viele dieser Menschen haben mich auch in der Zeit meiner Erkrankung und Behandlung begleitet. Trotz Chemotherapie / Schwäche / vieler Ängste und allen Mühsal gab es dank ihnen auch immer so viele schöne Momente.
Ich habe – wie das viele Krebs-überlebende berichten – durch meine Erkrankung, lernen dürfen, worauf es im Leben wirklich ankommt. Für mich sind – neben Selbstliebe oder liebevollem Mitgefühl für sich selbst – die Leute, die ich liebe, eine zentrale Ressource, um zu heilen. Es gab so viele schöne Besuche, Gespräche, Spaziergänge, Ausflüge, gemeinsames Essen und neben so manchen Tränen und depressiven Tagen viel Freude, Lachen und Spaß während meiner Erkrankung, die ich nicht missen will.
Ich hatte und habe das Glück so ein gutes soziales Netz aufgebaut haben zu können. Das ist ein Geschenk, das leider nicht die Realität für viele Menschen darstellt. Deswegen möchte ich auch gleich sagen, dass auch, wenn gerade nur wenige liebe Menschen in deinem Leben sind oder du recht allein bist, Heilung immer möglich ist. Wir haben immer die Beziehung zu uns selbst und auch diese Beziehung kann wahre Wunder vollbringen. Wenn wir beginnen die Beziehung zu uns selbst zu ändern, dann ändert es auch die Beziehungen zu unseren Mitmenschen. Je liebevoller wir uns selbst annehmen, desto eher können wir auch Liebe und Empathie für andere entwickeln und dadurch von Liebe, Respekt und Wertschätzung getragene Beziehungen zu und mit anderen Menschen aufbauen. Wie das gelingen kann; dafür bieten dir dieser und die verschiedenen Artikeln auf dieser Webseite hoffentlich ein paar Anregungen.
Ein paar grundlegende Ideen zu menschlichen Beziehungen
Ich finde es wichtig, auf die eigenen Grenzen zu achten und immer wieder hinzu spüren, welcher Person ich was / wie viel über mich/ meine Empfindungen und verletzlichen Seiten erzählen möchte. Besonders wenn wir durch gewisse Lebensumstände viel Kraft benötigen, ist es ratsam auch darauf zu achten, welche Menschen und Kontakte uns für die eigene Heilung hilfreich und dienlich sind.
Es gibt nicht wenige Menschen die Krebs hatten, die sich von einigen Beziehungen oder manchmal auch Lebenspartner_innen trennen mussten, um gesund zu werden. Es geht bei der Ressource Gemeinschaft also nicht darum, zwangsläufig mit oder unter vielen Menschen oder in Gruppen zu sein, die eigentlich Energie rauben oder uns nicht wirklich akzeptieren oder wertschätzen. Für manche Menschen und Lebenssituationen ist es also auch Ausdruck von Selbstliebe und dem Willen zur Heilung, zu Menschen, oder Anteilen von Menschen klar Nein zu sagen oder sich aus Beziehungen zu lösen oder den Kontakt zu reduzieren und so weiter.
Wenn ich darüber nachdenke, was ich an Menschen besonders schätze und was so heilsam für mich war und ist, dann ist es das Gefühl, dass ich mit Anderen und letztendlich darüber hinaus, mit Allem, der ganzen Welt / dem Universum, in Verbindung bin.
Diese Erfahrung oder dieses tiefe Wissen wird im Buddhismus oft Inter*sein genannt. Aber was ist das eigentlich, dieses Gefühl oder Wissen der Verbundenheit und wie können wir es anzapfen? Neben den Techniken aus der Achtsamkeit / Meditation, die wir selbst anwenden können, finde ich eben auch, dass soziale Beziehungen und Gemeinschaft uns darin unterstützen können. Zum Start möchte ich hier ein paar Ideen der amerikanischen Autorin Brene Brown vorstellen.
Verletzlichkeit ist die Quelle von tiefen Verbindungen
Brené Brown schreibt viel über Scham, Verletzlichkeit, Authentizität und wie sie es nennt „aus vollem Herzen zu leben“. Ihre Grundaussage ist, dass sich verletzlich zu machen / zu zeigen und schamhafte Themen und Gefühle anzunehmen und zu teilen, die absolute Basis für tiefgehende und heilsame Verbindungen zu anderen Menschen ist.
Dies zu tun und so zu leben ist für viele Menschen zunächst ungewöhnlich. Jedoch sind eben genau die Dinge, Anteile und Geschichten von uns, die wir als „unangenehm“, peinlich, schambehaftet, schlecht oder negativ bewerten und die Ängste in uns schüren vor Ablehnung, Kontaktabbruch und Isolation, auch genau die grundlegenden Zutaten, für tiefgehende, von Liebe, Respekt und Wertschätzung getragene Beziehungen.
Eine hilfreiche Mini-übung ist die Perspektive zu wechseln. Brené Brown stellt bei einem Vortrag folgende Erkenntnis vor. Sie hat entdeckt, dass Menschen sehr unterschiedlich reagieren, wenn es um das Teilen von Scham geht. Sie hat Menschen gebeten, sich vorzustellen, dass sie etwas Schamhaftes vor anderen preisgeben. Sie hat dann nach Gefühlen und Gedanken gefragt. Bei den meisten Menschen überwiegen Ängste, Abwertungen und Abwehrreaktionen. In der umgekehrten Situation, sieht es ganz anders aus. Wenn Menschen einer Person zuhören, die etwas Intimes über sich erzählt, reagieren die meisten Menschen mit Bewunderung, Mut, Bekräftigung und Anerkennung für diese Person. Die Bewertungen von sich selbst und von anderen Menschen klafft also – wie auch bei der Empathie– oftmals auseinander.
Ich habe so etwas gerade selbst erlebt. Ich nehme gerade an einem Jahrestraining in einer Gruppe schwuler, queerer und trans Männer* Teil. Dabei geht es darum Sexualität lebensbejahend und in Übereinstimmung mit den eigenen Werten zu leben. Bei einer Übung ging es ebenfalls um Scham. Die Übung wurde von einem Schamanen angeleitet. Alle Teilnehmer haben einen Kreis geformt und und hatten die Aufgabe ohne Wertung und mit Liebe und Wertschätzung zuzuhören. In der Mitte gab es ein Kreuz, indem jeder freiwillig hineinsteigen und über seine Scham sprechen konnte. Es wurde sehr viele Themen darin angesprochen. Auch ich habe etwas ausgesprochen, was extrem Scham besetzt für mich war. Es war interessant zu merken, wie schwierig und stressig es für mich war, in der Mitte zu sein. Gleichzeitig war es natürlich auch befreiend. Als ich im Kreis stand, und den Anderen zugehört habe, habe ich immer nur extreme Offenheit, Neugierde und Bewunderung gespürt, für den Mut der Person in der Mitte. Ebenso konnte ich immer eine Verbindung spüren.Vielleicht nicht konkret zu der Situation, die geschildert wurde, aber zu den dahinterliegenden Gefühlen, Ängsten, Wünschen und Sehnsüchten der Person.
Auch dann habe ich mir gedacht: Wenn ich bei zwanzig verschiedenen Menschen, die ihre Scham offenbaren, jedes einzelne Mal nur Bewunderung, Offenheit und Nähe spüre, dann kann ich vielleicht auch davon ausgehen, dass es anderen Menschen mit mir auch so geht, und ich einfach Dinge aussprechen kann. Das war wirklich eine extrem starke Erfahrung für mich.
Diese Erfahrung habe ich auch mit Krebs gemacht. Ich bin relativ offen mit der Erkrankung, meinen Gefühlen, Gedanken und Prozessen umgegangen. Mir wurde während meiner Erkrankung oft rückgemeldet,dass es sehr heilsam, entspannend, angenehm und lehrreich für meine Mitmenschen war, mit mir zu sprechen. Viele Menschen haben sich selbst sehr viele Gedanken darüber gemacht, was ihnen im Leben wichtig ist und haben mir viel Bewunderung und Anerkennung entgegengebracht,wie ich mit der Krankheit umgehe. Das war natürlich sehr stärkend für mich.
An einer anderen Stelle des Blogs habe ich schon darüber geschrieben, dass eine chronische Erkrankung zu haben und damit umzugehen, sehr heilsam für das gesamte soziale Umfeld sein kann und einen wichtigen Beitrag zum Leben und der persönlichen Entwicklung von Menschen bringen kann.
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Natürlich ist Verletzlichkeit etwas, was einen Rahmen und Grenzen braucht. Im Falle des oben genannten Rituals zum Ausprechen von Scham gab es einen ganz klaren therapeutischen Rahmen und viel Vertrauen zwischen den Menschen in der Gruppe. Auch bei Freund_innen, Familie und anderen menschlichen Beziehungen, bedarf es natürlich an Vertrauen, Grenzen und einem passenden Rahmen.
Für mich gibt es ein breites Spektrum zwischen den Polen „Schutz meiner Intimsphäre und Verletzlichkeit / sich nicht öffnen“ und „vollkommene Offenheit – alles auspacken“. In jeder Situation und mit jedem Menschen habe ich die Macht und Möglichkeit zu entscheiden, wo ich in diesem Moment auf diesem Spektrum sein möchte. Ich teile auf diesem Blog zwar schon viele Dinge, aber eben auch nicht alles, weil ich mir genau überlege, welche Information ich im Netz auf Ewigkeit mit potentiell der ganzen Menschheit teilen möchte.
Eine Metapher für vertrauensvolle Beziehungen – die Murmeldose
Etwas was Brené Brown meiner Meinung nach besonders toll schafft, ist es, mit sehr lebensnahen und unkomplizierten Beispielen, Geschichten und Metaphern, Weisheiten zu verdeutlichen. In ihrem Vortrag „The anatomy of trust“ und im Buch „Verletzklichkeit macht stark“ erzählt sie von einem Gespräch mit ihrer Tochter im Volksschulalter. Sie sprachen über Vertrauen und welchen Freund_innen, wir was über uns erzählen wollen/sollen oder können. Ihre Tochter ist eines Tages ganz erschüttert von der Schule nach hause gekommen und erzählte ihr, dass sie nie wieder jemanden etwas erzählen würde. Es stellte sich heraus, dass ihre Tochter zwei ihrer Freundinnen etwas Peinliches erzählt hatte. Diese haben es ausgeplaudert und schlussendlich wurde das Mädchen von der ganzen Klasse ausgelacht.
Um mit ihrer Tochter darüber ins Gespräch zu kommen, verwendet Brené Brown die Metapher einer Murmeldose. Wenn Menschen etwas machen, was unser Vertrauen zu ihnen stärkt, dann können wir ein oder mehrere Murmeln“ in ihre „Vertrauensdose“ geben. Je mehr Murmeln drinnen sind, desto mehr können wir uns entscheiden sehr persönliche, verletzliche Dinge über uns zu erzählen. Und unsere ganz persönlichen, tiefsten und verletzlichsten Anteile, teilen wir mit den Menschen, deren Murmeldose voll ist. Danach sprechen die beiden darüber, was denn Menschen tun, um eine Murmel in der Vertrauensdose zu bekommen. Dabei kommen viele witzige Beispiele,aber im Endeffekt geht es darum, dass Menschen auf eine Weise für uns „da“ sind, ob das nun durch eine sms-Schicken, zuhören, an unseren Geburtstag denken, uns die ehrliche Meinung sagen, oder sonst etwas ist. Viel der Forschung von Brown beschäftigt sich ganz im Detail auch damit, was und womit Menschen unsere Vertrauensdosen mit Murmeln auffüllen (vgl. Brown 2013: 64f.).
Verschiedene Menschen haben verschiedene Qualitäten,mit denen sie unser Vertrauen gewinnen können. Es geht – wie schon erwähnt – nicht darum allen unseren Mitmenschen ständig alles zu erzählen. Nicht alle Menschen, können damit zu jedem x-beliebigen Zeitpunkt umgehen.
Mit dieser Metapher wird etwas ausgedrückt, was ich von mir und meiner Erkrankung sehr gut kenne. Ich habe ein ganz gutes Gespür entwickelt dafür, wem ich was gerade zumuten kann, oder mit welchen Menschen ich über welche Aspekte meiner Erkrankung und Erfahrung gut sprechen kann oder eher nicht. Dies hat dann oft zu mehr Nähe mit vielen Menschen, aber manchmal auch zu der Erkenntnis geführt, dass es mit einer Person eben nicht so gut passt oder ich gewisse Themen vielleicht in diesem Moment nicht mit diesem Menschen teilen kann, oder will. Mir gefällt das Bild der Murmeldose, weil wir uns mit dieser Metapher genauer überlegen können, welcher Mensch, wie viel unseres Vertrauen hat. Genauso können wir uns fragen,was wir eigentlich für eine Beziehung mit einem Menschen schon getan haben um uns dessen Vertrauen zu erarbeiten.
Zusammenfassung
Warum schreibe ich hier diesen einleitenden Artikel wenn es um Gemeinschaft und Heilung geht? Weil ich für mich persönlich erkennat habe, dass ich ganzheitlich gesehen überhaupt nur heilen kann, wenn ich meine Gefühle, und Verletzlichkeit und Heilung benötigenden Anteile, zeigen und teilen kann.
Damit meine ich aber „mehr“ als den platten und immer wieder endlos gekauten Ratschlag „es ist gut darüber zu reden“. Ich finde natürlich nicht, dass mensch mit befreundeten Personen über alles reden . Aber es kann ein Geschenk sein und Beziehungen sehr vertiefen und festigen, wenn wir mit Menschen, denen wir vertrauen, Dinge, die uns wichtig sind, teilen.
Ich sehe einen „Vorteil“ in meiner Krebserkrankung darin, dass sie mich zwang und zwingt „echter“, ehrlicher und authentischer zu sein / zu werden. Dies ist natürlich weiterhin ein Weg und im Endeffekt weiß ich nie, was ich gerade authenthisch bin, da in mir ja ständig innere Programmierungen, unbewusste Anteile und mentale Muster wirken. Aber ich denke, dass Schicksalsschläge oder chronische Erkrankungen wie Krebs, sowie das Thema (potentieller) Tod, uns manchmal zwingen uns mehr zu öffnen. Aus meiner Recherche und Lesen von anderen Überlebensgeschichten sehe ich, dass es viele Menschen in meiner Situation gib, die sehen, dass die Erkrankung intensivere und engere Beziehungen zu ihren Mitmenschen, Freund_innen und Familienmitgliedern ermöglicht hat.
Ich lade also auch dich und alle Menschen dazu ein, sich daran zu erinnern, welche Ressourcen im Miteinander und in der Gemeinschaft stecken und sich für Menschen, Orte und Gruppen zu öffnen, die dieses heilsame Potential unterstützen.
Hier geht’s zu Teil 2, Teil 3 und Teil 4
Ressourcen
Brown, Brené (2017): Verletzlichkeit macht stark. Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden. Goldmann Verlag, München
Brené Brown Ted Talk: The power of vulnerability (Englisch mit deutschen und vielen anderen Untertiteln)
Lieber Lukas,
ich staune immer wieder, wie gut dir es gelingt, Wesentliches anzusprechen! Man spürt so viel Tiefe bei Dir – so kann nur jemand schreiben, der selbst schon durch einiges durchgegangen ist. (Die TED-Talks von Brené Brown kenne ich- sie haben mich auch sehr beeindruckt!) Danke dafür!!
Weil ich es so klasse finde, was du machst, habe ich Dich für den „Versatile Blogger Award“ nominiert! Wenn Du magst, schau´doch einfach auf meiner Website, was es damit auf sich hat!
Alles, alles Gute für Dich!
Liebe Grüße
Carola
Hallo Carola,
Vielen Dank für deine liebe Rückmeldung! Ich bin gerade neu nach Berlin umgezogen und habe wieder begonnen zu arbeiten, weswegen ich gerade weniger Ressourcen für den Blog habe.Werde aber natürlich weiterbloggen und schauen dass alles rauskommt, was ich zu teilen habe.
Ich schaue mir das mit dem Award und deinen Blog genauer an, wenn ich etwas Luft habe und melde mich dann nochmal, wenn ich weiß was das ist, wovon du schreibst 🙂
Danke nochmals und ganz liebe Grüße,
Lukas