Achtsamkeit – Was ist das eigentlich und wie bin ich dazu gekommen?
Vor zwei Jahren noch hatte ich keine wirkliche Ahnung davon, was dieses Wort bedeuten soll. Ich lebe in Wien und kannte/kenne es aus Durchsagen in der U-Bahn oder Straßenbahn. Dabei werden die Fahrgäste aufgefordert „achtsam“ zu sein und z.B. ihren Sitzplatz anzubieten, wenn Menschen ihn notwendiger brauchen. Ich habe also mit Achtsamkeit so etwas wie „aufpassen“ verstanden. Aufpassen darauf, was um einen herum geschieht. Momentan gibt es in Wien bei den öffentlichen Verkehrsmitteln wieder eine Durchsage bei der das Wort „achtsam“ vorkommt. Dabei geht es darum hinzuweisen, das Betteln nicht erlaubt ist. Das hat mit Achtsamkeit nichts zu tun, und deswegen bin ich gerade dabei mit anderen Praktizierenden einen Brief an die Wiener Linien zu verfassen. Aber zurück zum Punkt:
Was damit für mich gemeint ist und warum es für mich so hilfreich ist, möchte ich in diesem Artikel erklären. „Aufpassen“ auf das was um mich herum ist, ist schon ein guter Startpunkt, aber es gibt noch viel mehr zu entdecken. Achtsamkeit ist für mich zu einer Revolution in meinem Leben geworden. Ich denke, dass ich ohne dieses „Lebensgeheimnis“, ohne Meditation und ohne die Entdeckung, welche unglaubliche Kraft es in uns gibt, meine Erkrankung nicht überlebt hätte.
1. Jon Kabat Zinn und MBSR (Mindfulness based stress reduction)
Durch meinen lieben Freund Uroš habe ich während meiner zweiten Chemotherapierunde ein Hörbuch von Jon Kabat Zinn mit dem englischen Namen „Full catastrophy living“ bekommen. Die volle Katastrophe leben. Ein sehr passender Titel wenn man Krebs in Stadium 3 hat! Er hat mir auch erzählt, dass es dabei um Achtsamkeit und Meditation geht. Ich habe mich dann gefragt, warum dieser Titel gewählt wurde. Normalerweise haben solche Bücher ja eher „positive“ Titel. Aber ich finde ihn sehr gelungen und mag deswegen auch mit diesem Bild „der vollen Katastrophe“ in diesen Ressourcenblock einsteigen.
Jon Kabat-Zinn ist ein amerikanischer Arzt und Meditationslehrer, der schon in den 1970er Jahren begonnen hat, Meditation und Achtsamkeitsübungen systematisch in den Behandlungsalltag einer Spitalsklinik zu integrieren. Er hat im US Bundesstaat Massachusetts eine Klinik zur Reduktion von Stress und eine konkrete Methode zur Arbeit mit den verschiedensten Menschen (be)gegründet.
Er hat dabei viele Techniken der Meditation oder auch des Yoga aus dem asiatischen Raum in einen sekulären und neutralen Rahmen verpackt, und diese Praxen somit auch Menschen zugänglich gemacht, die sich in spirituellen Traditionen nicht wieder finden, oder vielleicht Ablehnung dagegen haben, da sie „Meditation“ nicht als Teil ihrer religiösen und atheistischen Weltanschauung sahen.
Dies war auch für mich sehr hilfreich und deswegen betone ich es gleich an dieser Stelle. Egal, ob du atheistisch, agnostisch, christlich, muslimisch, jüdisch, hinduistisch, buddhistisch, oder sonst wie dich definierst, Meditation und Achtsamkeit ist für alle Menschen zugänglich und auch Teil all dieser Religionen. Es geht also nicht darum irgendwen zu bekehren etwas neues zu glauben sondern darum ein Werkzeuge zu erlernen, mit dem umzugehen, was in unserem Leben ohnehin schon ist.
In die Klinik zur Stressreduktion kommen also Menschen mit Herz-Kreislauferkrankung, Krebs, Diabetis, Depressionen, nach Schlaganfällen, mit und ohne Einschränkungen und Behinderungen. Alle üben sich in einem 8 wöchigen Programm in Achtsamkeit, das auf Englisch „mindfulness based stress reduction“, also achtsamkeitsbasierte Stressreduktion genannt wird, kurz MBSR.
Dabei wird Sitzmeditation, Yoga und Achtsamkeit im Alltag geübt. Es werden Entspannungsreisen durch den Körper – „body scan“ genannt – durchgeführt und den Teilnehmenden Aufgaben für die Wochen mitgegeben, sodass sie sechs Mal die Woche 45-60min Achtsamkeit üben. Und diese Praxis hat nachweisbar gesundheitsfördernde Auswirkungen, wie erhöhtes subjektives Wohlbefinden, niedrigere Cholesterinwerte oder weniger Bedarf an Schmerzmedikation.
2. Was ist Achtsamkeit?
Jon Kabat-Zinn definiert Achtsamkeit als „die Bewusstheit, die sich durch gerichtete, nicht wertende Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick einstellt“ (Kabat-Zinn 2013: 23).
Ein ganz schön dichtes Zitat meiner Meinung nach. Ich versuche ein paar Punkte herauszuarbeiten:
Bewusstheit
Ein anderes Wort dafür ist „Gewahrsein“. Es geht darum zu erkennen, dass wir mehr sind, als unser Verstand und unsere Gedanken. Dazu werde ich noch einen eigenen Artikel schreiben. Wir sind nicht nur unser Verstand/Gedanken und Identität. Wir sind auch einfach das Bewusstsein, das Gedanken, Gefühle und externe Vorgänge beobachten und wahrnehmen kann. Genauso wie wir uns durch Lesen, Lebenserfahrung oder Ausbildung/Studium neues Wissen und Gedanken aneignen können, können wir durch Meditation und Achtsamkeit unser Gewahrsein trainieren, also bewusster wahrzunehmen was in uns und um uns herum ist.
Eine kurze Erklärung für Achtsamkeit ist vom Tun ins Sein zu kommen. Achtsamkeit ermöglicht uns wahrzunehmen, dass wir als Bewusstsein / Gewahrsein immer da sind, und nicht nur wenn wir etwas tun. Wenn wir z.B. einfach nur dazusitzen, anstatt Radio zu hören, oder in den Fernseher oder ins Handy zu schauen, können wir un uns hinein spüren und mehr erkennen, was gerade in uns da ist. Oft tun wir ständig etwas im Außen, um dies nicht spüren zu müssen oder uns abzulenken. Achtsamkeit ermöglicht uns so andere Erfahrungen über uns selbst zu machen. Wir sind nicht nur Identität oder das was wir tun, sondern wir „sind“ einfach, solange wir leben.
Gerichtete nicht wertende Aufmerksamkeit
Normalerweise bewerten und kategorisieren wir ständig, wenn wir denken.Wir finden etwas gut/schlecht, richtig/falsch, wir bewerten und verurteilen uns selbst und andere. Achtsamkeit ermöglicht diese Bewertungen ein Stück wahrzunehmen,beispielswiese wenn wir einen Gedanken erkennen und uns selbst sagen: „Oh ich werte mich gerade selbst ab“. Diese Aufmerksamkeit müssen wir aber trainieren, da der Verstand von sich aus uns immer wieder in Gedanken verstrickt und es liebt sich oder andere auf und abzuwerten. Gerichtet meint dass wir die Aufmerksamkeit auf verschiedenen Dinge, wie Atem, Boden spüren, Gedanken, Essen, Gehen oder sonst etwas richten können.
Gegenwärtiger Augenblick – Jetzt
In einem extra Artikel führe ich nochmals Gedanken zum „Jetzt“ aus. Achtsamkeit ermöglicht uns immer mehr wahrzunehmen, dass das Leben nur aus Augenblicken im Jetzt besteht. Vergangenheit und Zukunft gibt es nur durch Gedanken, die wir im Jetzt denken. Die Fähigkeit das Jetzt mehr wahrzunehmen, z.B. wenn wir unseren Verstand beruhigen, wird durch Achtsamkeit gestärkt.
Sich einstellt
Diese Bewusstheit stellt sich ein. Achtsamkeit ermöglicht uns, das was sowieso schon da ist in uns, überhaupt wahrzunehmen.Es geht nicht darum durch ein Tun etwas zu erreichen. Sondern durch das Verweilen im Nichts-tun / im Sein stellt sich eine gewisse Lebensperspektive / ein Gefühl von Verbunden-sein, eine andere Art zu leben und eben zu „sein“ mehr und mehr von selbst ein. Wenn wir bei Achtsamkeit Erwartungen haben, z.B. dass wir ganz entspannt und glücklich werden, wird es nicht funktionieren.
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Kabat-Zinn weist noch auf eine Bedeutung des Wortes hin. Achtsamkeit wird im Englischen mit „mindfulness“ übersetzt. „Mind“ bedeutet Geist/Verstand. In vielen asiatischen Sprachen ist das Wort für Geist/Verstand und Herz jedoch dasselbe und verweist darauf, dass Herz und Geist gleich wichtig sind. Wenn wir die Herz-Ebene weglassen, ist das ein verkürztes Verständnis von Achtsamkeit.
Es geht um mehr, als nur Gedanken zu beobachten, sondern es geht um eine ganzheitliche Form des „Seins“, die über den Verstand/Geist hinaus geht und den Menschen mit allen Anteilen erfasst. Der buddhistische Mönch Ajahn Brahm, den ich auch in zwei Artikeln noch erwähnen werde, spricht selbst von „kindfulness“ um darauf hinzuweisen, dass es bei Achtsamkeit nicht nur um Gedanken beobachten geht, sondern auch freundlich und liebevoll mit sich selbst zu sein.
Kabat-Zinn schreibt: Achtsamkeit „lehrt uns, vom Aktionsmodus in den Seinsmodus zu wechseln, Zeit für uns selbst zu beanspruchen, unseren Lebensimpuls zu verlangsamen, innere Ruhe und Selbstakzeptanz zu pflegen, den Geist in seiner Sprunghaftigkeit zu beobachten, die Gedanken zu beobachten und loszulassen, ohne uns in sie zu verstricken oder von ihnen fortgetrieben zu werden. Achtsamkeit lehrt uns, vertraute Probleme in neuem Licht zu sehen und zu erkennen, wie alles miteinander zusammenhängt“
(Kabat-Zinn 2013: 56).
Schlussendlich können wir Achtsamkeit als einen Lebensweg und Möglichkeit ansehen in einen Zustand innerer Harmonie und Ganzheit zu kommen, und zu spüren, dass wir als Person schon ohnehin vollkommen und heil und ganz sind.
3. Die volle „Katastrophe“ des Lebens annehmen
Warum hat Jon Kabat Zinn also sein erstes Buch „Full Catastrophy Living“ genannt? Er schreibt in der deutschprachigen Übersetzung „Gesund durch Meditation“, dass die Teilnehmenden dieses 8 Wochenprogrammes lernen, das Leben, mit allen Augenblicken, Anteilen, Schmerzen und Glücksmomenten vollkommen anzunehmen. Es geht, wie ich bei den Psychischen Ressourcen noch erwähnen werde und woraufhin besonders Eckhart Tolle verweist, darum „Ja“ zu jedem Moment zu sagen. Jon Kabat-Zinn schreibt über die Teilnehmenden:
„Sie stellen sich der Herausforderung, im Bewusstsein zu leben, dass jeder Moment bedeutsam ist, dass es auf jeden Augenblick ankommt und dass man mit jedem arbeiten kann, auch wenn es ein Augenblick des Schmerzes, der Trauer, der Verzweiflung oder der Angst ist. Ein wesentlicher Teil dieser „Arbeit“ ist, sich regelmäßig und diszipliniert in der Achtsamkeit zu üben, also darin, jeden Augenblick bewusst zu erfahren, sich jeden Moment persönlicher Erfahrung vollständig «zu eigen» zu machen und ganz in ihm «zu Hause» zu sein, sei es ein guter oder ein schlechter Moment. Dies ist der eigentliche Sinn unserer Metapher von der ganzen Katastrophe des Lebens.“ (Kabat-Zinn 2013: 41)
Ich finde, dass dieser Absatz sehr viel schon ausdrückt. Es geht nicht darum das Leben als etwas schlechtes zu sehen. Sondern es geht darum das Leben in seiner Fülle „die ganze Katastrophe“ anzunehmen, egal was kommt. Tun wir dies sind viele kleine und große Wunder möglich.
Ebenso drückt es einen weiteren Aspekt aus. Achtsamkeit ist eine Fähigkeit, die wir durch „harte Arbeit“ erwerben. Genauso wie eine Sportlerin oder ein Sportler ihre Muskeln, Sehnen und Ausdauer durch regelmäßiges Training stärkt / ausbaut, können und müssen wir unsere Achtsamkeit durch regelmäßige (Meditations-)praxis trainieren. Es kommt – bis auf vielleicht wenige Ausnahmen – nicht von selbst, sondern erfordert unser aktives Zutun. Also zu lernen Nichts zu tun erfordert unser diszipliniertes Tun.
Dies ist gleichzeitig auch der Schlüssel, warum so viele kranke Menschen von der MBSR Methode profitieren, denke ich. Es zeigt, dass wir Menschen, egal wie unsere Lebensumstände sind, die Möglichkeit haben, aktiv Einfluss auf unsere Situation zu nehmen. Achtsamkeit ermöglicht also Selbstermächtigung und ein Gefühl von Kontrolle; Kontrolle und Macht darüber auf das eigene Leben einzuwirken, was wiederum ein wichtiger Schlüssel für Heilung ist.
Diese ermächtigende Erfahrung habe auch ich gemacht. Ich habe gesehen, dass ich, trotz Krebs und Chemotherapie, aktiv Einfluss auf meinen geistigen und damit auch gesundheitlichen Zustand nehmen kann. Etwas wovon Krebspatient_innen in Anbetracht der Gefühle von Hilfslosigkeit besonders profitieren können.
In den folgenden Artikeln dieses Blogs werde ich noch weiter ein paar Aspekte
zur inneren Haltung und Praxis, zu Meditation allgemein, sowie ein paar wissenschaftliche Erkenntnisse vorstellen. Danach möchte ich die verschiedenen Bausteine des MBSR Programms genauer eingehen:
- verschiedene (Sitz-)Meditationen
- Gehmeditation
- den Bodyscan und Tiefenentspannungsübungen
- Yoga
- achtsames Essen
- achtsames konsumieren
- generelle achtsame Lebenspraxis
Ebenso werde ich auch Meditationen von mir – die „Chemo-meditation“ und „Intersein-Meditation“ vorstellen und plane eine Seite mit Liedern, Texten, Gebeten zusammen-zustellen, die für deine Achtsamkeitspraxis vielleicht hilfreich sein können.
Ressourcen
Kabat-Zinn, Jon (2013): Gesund durch Meditation: Das große Buch der Selbstheilung mit MBSR. Knaur Menssana, München
Interview mit Jon-Kabat-Zinn auf Deutsch SFR 2016
The Center for mindfulness: mindfulness and healing of the world
Vortrag von Jon Kabat-Zinn auf Englisch
Minfulness -How to feel comfortable in your own skin
7 Minuten Video indem Jon Kabat-ZInn Achtsamkeit simple erklärt (Auf Englisch)
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